Tagungsbericht
Professionalisierung und Digitalisierung
Perspektiven für die seelsorgerliche Dokumentationspraxis – 19. Januar 2022, 13.30h-17.30h – Zoom/UZH

David Neuhold

Die Pandemie hat die Tagung, die präsentisch an der Universität Zürich geplant war, in ein Webinar verwandelt. Es ist dies ein geradezu bezeichnendes Ergebnis und zeigt, wie selbstverständlich unterdessen professionelle digitale Kommunikationsformen geworden sind. Im März bzw. April 2020 wurden diese noch tastend und taumelnd in Anspruch genommen. Die katalytische Funktion der Krise zwischenmenschlichen Austausches hin zu neuen Formen der Kommunikation, zu neuen Plattform-Lösungen, wird deutlich.

An der Scharnierstelle zweier grösserer Forschungsprojekte angesiedelt, erfreute sich die Veranstaltung mit an die 50 teilnehmenden Personen einer grossen Nachfrage – die meisten davon selbst Seelsorgende. Kam einerseits Ende 2021 das SNF-Projekt «Dokumentation klinischer Seelsorge» zum Abschluss, so zieht sich die Thematik, die auf den ersten Blick technisch, trocken und beiläufig anmuten könnte, als ein Element in den an der Universität Zürich langfristig finanzierten Forschungsschwerpunkt (UFSP) «Digital Religion(s)» hinein: www.digitalreligions.uzh.ch. Interprofessionelle Dokumentationspraktiken von Seelsorgenden werden in Zukunft praktisch zwangsläufig digital umgesetzt werden. Aber die Digitalität war nur ein Fokus im Programm, und rückte, um es so zu sagen, im kommunikativ und partizipativ angelegten Tagungsverlauf etwas in den Hintergrund zugunsten der Frage anstehender Professionalisierung der Spitalseelsorge in der Schweiz. Ganz offensichtlich besteht zurzeit ein grosser Handlungsbedarf in diesem professionellen Feld, der schon über den Zusammenschluss der bestehenden konfessionellen Dachverbände zu einem einzigen Seelsorgeverband Ende 2021 angezeigt wurde.

Nach einer allgemeinen Einführung zum Auftakt durch den Inhaber der Professur für Spiritual Care, Simon Peng-Keller, ging das Wort an Thomas Schlag, den Direktor des UFSP und praktischen Theologen an der Theologischen Fakultät in Zürich. Der Tagung und vor allem dem Forschungsteam von «Digitally shaped spiritual care», das als Teilprojekt des UFSP fungiert und die Dokumentations-Thematik weiterführt, gab er folgende drei Fragen mit auf den Weg: 1) Wo findet sich darin die öffentliche Theologie und der «geistvolle Gehalt» wieder? 2) Wie gestaltet sich in der Projektanlage das so wichtige Verhältnis von Praxis und Theorie, also einer engagierten und sozial-relevanten Wissenschaft? Und: 3) Wie zeichnet sich im Themenfeld digitaler Dokumentation die zukünftige Verhältnisbestimmung von Religion und Spiritualität ab?

Im Rahmen des ersten Hauptreferats von Simon Peng-Keller und Pascal Mösli wurde gezeigt, dass die Praxis seelsorglicher Dokumentation in die Anfänge von Clinical Pastoral Education/Clinical Pastoral Training zurückreicht, dass aber diese Facette lange Zeit wenig Rückhall in der deutschsprachigen Seelsorgeausbildung fand. Mit Dokumentation wird ein höherer Grad von (Selbst-)Reflexion ermöglicht. Seit der Jahrtausendwende gibt es ein neues Interesse an der Fragestellung, weil sich die Seelsorge stärker interprofessionell ausrichtet, die Digitalisierung in grossen Schritten sich voran bewegt und eine Art Wirksamkeitsorientierung zunehmend wichtiger wird. Regional sind hier unterschiedliche Entwicklungen und Schwerpunkte festzustellen: Drehen sich im angelsächsischen Raum die Fragen rund um Dokumentation eher um pragmatische Fragen, so sind wir etwa im deutschsprachigen Raum eher mit rechtlichen und grundsätzlichen Fragen beschäftigt, wie die aktuelle Diskussion um das Seelsorgegeheimnis zeigt. Das Forschungsteam an der Professur Spiritual Care hat in den letzten Jahren den laufenden Prozess mit einigen Publikationen, die alle open-access zugänglich sind, begleitet und an einem White Paper für die europäische Seelsorgevereinigung (ENHCC/ERICH) mitgewirkt: https://doi.org/10.1558/hscc.20583. Laut Simon Peng-Keller hängt die Frage nach der Dokumentation eng mit der Anerkennung und Einbindung von Seelsorge als spezialisierte Profession in das Gesundheitswesen zusammen. Seine These lautet: «Die Entwicklung seelsorglicher Dokumentation ist Teil und Spiegel eines Prozesses professioneller Transformation!» Wenn man so will, dann wurde diese zum roten Faden der Tagung.

Die Aktualität der Frage zeichnete Pascal Mösli über den Bundesratsbeschluss vom 11. August 2021 nach, in dem das elektronische persönliche Patientendossier gestärkt und als gezielt förderungswürdig gezeichnet wurde. Dazu verwies er auf die eigene Forschungstätigkeit der letzten Jahre, sei es in Workshops mit Seelsorgenden, sei es in der konkreten Implementierung von Dokumentationsprozeduren. In einem Workshop 2020 in Bern kristallisierte sich heraus, dass Dokumentation für einen nötigen Informationsfluss und dessen Qualität unverzichtbar ist und dass die Klippe lückenhafter und unprofessioneller mündlicher Dokumentation damit umschifft werden kann. Dazu diene Dokumentation immer auch als Leistungsausweis, wobei aber Schutzräume stets gewährleistet werden müssen. Beim Workshop 2021 in Zürich kam zum Vorschein, dass die verständliche Sprache in der Dokumentation fundamental sei, dass zugleich die unterschiedlichen Kontexte im Grossraum Spital bedeutsam und die Frage nach der Wirksamkeit gestellt werden muss. Hier ist die Forschung dann gefragt, sowohl in der Einschätzung der Seelsorgenden, als auch über Feed-Back von Patientinnen und Patienten.

Es wurden Beispiele gebracht, wo als Zielgruppe der Dokumentation ein Kanton als Auftraggeber auszumachen ist, und solche, wo sich die seelsorgliche Dokumentation als intra- bzw. interprofessionell bezeichnen lässt und auf eine Kultur der Zusammenarbeit, insbesondere im IT-Bereich, zurückgeht. Dokumentationsmethoden hängen eng mit Prozeduren von spirituellem Assessment und spiritueller Anamnese zusammen. Wichtig erscheint es Pascal Mösli, den eingeschlagenen Lernweg weiterzuführen, den nationalen und internationalen Erfahrungsaustausch fortzusetzen und die Grundfrage zu klären, ob die Seelsorge als ein neuer Beruf im Gesundheitswesen anzuerkennen ist. In den Zoom-Break-Out-Kleingruppen wurden angestossene Fragen wie diese weitergeführt. Die kantonal sehr unterschiedliche Situation kam darin ebenso zur Sprache wie die Herausforderung für die Seelsorgevereinigung, weitere Schritte zu setzen, und diese mit den jeweiligen Kirchenleitungen zu diskutieren.

Das zweite Referat führte die Teilnehmenden nach Québec, einer ehemals stark katholisch geprägten nun aber als ausgeprägt säkular zu bezeichnenden Gesellschaft. Bruno Bélanger präsentierte dem interessierten Publikum das dort von rund 60 Seelsorgenden an ungefähr 35 Einrichtungen praktizierte Evaluations- und Dokumentationsmodell. Dieses fusst auf fünf so genannten Markern oder Bereichen, welche für das spirituelle Assessment und die weiterführenden Schritte in der Begleitung eine Grundlage bieten, cf. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-47070-8_4. Eine aktuelle case-study ergänzte die Ausführungen. Kritische Rückfragen an das eigene Modell und seine Handhabung wurden dazu ins Feld geführt. Im Zentrum des Modells steht die Erfahrung der «Transzendenz». Es wurde deutlich, dass Dokumentationsmethoden wohl auch laufend angepasst werden müssen, das Entscheidende aber nicht aus den Augen verloren werden sollte. Vor allem Leiterinnen und Leiter der verschiedenen Einheiten in den Spitälern Québecs würden die Dokumentation der Seelsorgenden gerne lesen. Als vorteilhaft erwies sich, dass das Modell an der Tagung in Zoom-Kleingruppen analysiert wurde. Das System der Marker als Grundlage für die Klärung der spirituellen Nöte und Anliegen von Patientinnen und Patienten, so diskutabel es auch sein mag, stellt doch eine gute Grundlage für gemeinsame Reflexion dar.

Aus der anschliessenden Diskussion im Plenum sei nur ein Punkt herausgegriffen: In Québec ist es klar, dass, wenn Patientinnen und Patienten etwas geheim halten wollten, sie dies explizit erwähnen. «Please do not tell!» heisse es dann. Auch werden prinzipiell in der Dokumentation keine Details bekannt gegeben und bei schwierigen Informationen gibt es Code-Wörter wie «deep suffering» o.ä. in den Einträgen. Im Zoom-Chat wurde dazu angemerkt, dass es wichtig sei, der Diskussion auch das «Schwere» zu nehmen, und mit freudiger Kreativität und neugieriger Experimentierfreudigkeit an die Sache heranzugehen.

Der zweite Teil des Nachmittags, ab 16 h, stand ganz im Zeichen der geladenen Expertinnen und Experten und ihren Blicken auf die Dokumentationsfrage. Saara Folini und Claudia Graf leiteten diesen Teil. Mit Prof. Dr. iur. Thomas Gächter (Rechtswissenschafter und Dekan der Juristischen Fakultät Zürich), Prof. Dr. med. Michael Rufer (Psychiater und Klinikdirektor) sowie Regula Rigort (Leiterin des Fachbereichs im Departement Pflege) und Renata Aebi (Spitalseelsorgerin und Mitglied des Vorstands von palliative ch) brachten sich vier Exponenten unterschiedlicher Professionen ein, die einen spannenden Blick in die Zukunft warfen. Betonte Gächter die Standards und das Berufsbild der neuen Profession «spezialisierte Spiritual Care», die nach aussen hin deutlich machen müsse, wie Seelsorge ihre Aufgabe verstehtso hob Rufer eher praktisch-konkrete Momente hervor, insbesondere, dass mit den Patienten auch über die Dokumentation gesprochen werden solle. Regula Rigort machte sich in ihrem Plädoyer für ein gemeinsames Verständnis und eine geteilte Sprache im Dokumentationsprozess stark, und Renata Aebi strich heraus, dass es immer um die bestmögliche Versorgung des Patienten bzw. der Patientin gehen müsse. Darauf aufzubauen sei der zentrale Schlüssel für jetzige und künftige Spitalseelsorge als spezialisierter Spiritual Care.

Nach einer erneuten Einheit in Break-Out-Rooms mit den vier Spezialisten kristallisierten sich in der anschliessenden Diskussion im Plenum folgende Punkte heraus: 1) Es sei dringend notwendig, die Kirchenleitungen in die anstehenden Klärungen einzubinden. Wenn die Kirchen es verabsäumten, ins Thema einzutreten, dann könnte es sein, dass Terrain verloren geht, sich im Spital professionell zu integrieren. 2) Die optimale Sprache der Dokumentation und Kommunikation muss immer wieder errungen und im Team erarbeitet werden. Es ist auch wichtig, in diesem Konzept mit Beispielen zu arbeiten, wie es davor Bruno Bélanger getan hat. Zugleich wurde auf die Bedeutung von Schulungen und der Ausbildung insgesamt hingewiesen. 3) Das Seelsorgegeheimnis war in den letzten 40 Jahren selten strittig. Es gab nur sehr vereinzelte Äusserungen auf Ebene der Judikative. Dazu besitzt ein Berufsstand Freiräume, sich weiter zu entwickeln – ius sequitur vitam, das Recht folgt auch der Praxis. 4) Seelsorgende sind «Entwicklungshelfer» für eine allgemeine Spiritual Care in den Systemen der Gesundheitsversorgung. Sie sind zwar Experten für die Spiritualität, aber das Thema ist für alle wichtig. Würde man wirklich bei den Bedürfnissen der Patienten und der Patientinnen ansetzen, so sähe man den grossen Bedarf in diesem Bereich umgehend. 5) Es ist zu klären und zu überlegen, wie man antwortet, wenn man gefragt wird, warum denn Notizen genommen werden. Wiederum gilt es den Patienten bzw. die Patientin einzubeziehen.

Kurze mit VideoScribe erstellte Clips (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=FAnLN86evLI) lockerten das Podium auf und gaben zugleich einen Ausblick auf Telechaplaincy in den Vereinigten Staaten, wo seelsorgliche Formate schon sehr ausgeprägt digital umgesetzt werden (https://www.youtube.com/watch?v=xhpk214xrk8). Dokumentation gehört hier selbstverständlich dazu. Von den Patientinnen und Patienten kann diese umgehend eingesehen und teilweise sogar modifiziert werden. Es ist also keine Zukunftsmusik, dass Patientinnen und Patienten an ihren für die Spiritualität relevanten Gesundheitsdossiers mitschreiben, sich also darin massgeblich partizipativ beteiligen.

David Neuhold, 2.2.2022