Die Weichen für die Zukunft stellen – Seelsorge im Gesundheitskontext lesbar machen

Am 27. August 2024 fand die zweite Jahrestagung des Berufsverbandes Seelsorge im Gesundheitswesen (BSG-APA) in Bern statt. Es ging um nichts weniger als das Berufsprofil der heutigen Spitalseelsorge für die Zukunft.

86 Seelsorgende aus der französisch- und deutschsprachigen Schweiz wollten wissen, wohin die Reise bei sehr unterschiedlichen kantonalen Regelungen und kirchlichen Traditionen gehen kann. Mit ausgewiesenen Expert:innen von palliative.ch, dem nationalen Fachverband für Palliative-Care, vom Lehrstuhl für Religionspsychologie der Universität Lausanne und einem breit angelegten World-Café, in das die Erfahrungen der Seelsorgenden in den Institutionen einflossen, wurde die Expertise aller Anwesenden zueinander geführt. Die Ergebnisse will der Berufsverband, der sich erst im Jahr 2022 aus den katholischen und reformierten Vereinigungen zusammenschloss, zur weiteren Profilschärfung verwenden.

Eine Vielzahl von Playern

Im ersten Hauptvortrag war eine kritische Aussensicht gewünscht. Die Geschäftsführerin von palliative.ch, Renate Gurtner Vontobel, führte durch eine historische Reise der Pflegeentwicklung. Das Gesundheitswesen habe sich seit den 2000er Jahren nochmals massiv verändert. Im Gegensatz zu den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor, gibt es heute eine Vielzahl von Playern und Angeboten, Settings, Regeln und Regulierungen, Gesetzen und Vorschriften. Die Multiprofessionalität ist hierbei eine Chance, aber auch Herausforderung. Wer dort «dazu stossen» und ernstgenommen werden möchte, befindet sich inmitten eines ökonomischen Verteilkampfs zwischen den Professionen.

Die Rolle und den Platz, den man hierin als Spital- und Klinikseelsorge haben möchte, müsse man sich erkämpfen. Das Aushandeln der Bedingungen sei eine Geduldsfrage und gehe über Jahrzehnte. Dabei lohne sich für die Spitalseelsorge ein Blick auf die verschiedenen Ausbildungswege für Gesundheitsberufe, die im Berufsbildungs-, Medizinalberufe- und Gesundheitsberufegesetz geregelt sind.

Den Kairos ergriffen

Die Palliative-Care hatte – gemäss Gurtner – ihren Kairos in den 2008/09 Jahren. Pionier:innen  gelang es, sich politisch Gehör zu verschaffen. Die Nationale Palliative-Care Strategie ist eine Folge davon. Dort wurde auch entschieden, dass es ein Zertifikat für die Qualität in Palliative-Care geben soll. Im Rahmen dessen ist von Qualitätsstandards aller beteiligten Professionen die Rede, was auch die Spitalseelsorgenden betrifft.

Ella Benninger, Fachspezialistin Qualität bei palliative.ch, verwies darauf, dass Qualitätsstandards auf die verschiedenen Settings abgestimmt sein müssen. So habe palliative.ch bisher Standards für vier verschiedene Settings erarbeitet: für die spezialisierte stationäre Palliative Care, für Konziliar-Dienste, für die mobile Versorgung und für den Bereich der Langzeitpflege. Es gebe ein Spannungsfeld zwischen wünsch- und machbar. Über allem stehe die Finanzierungsfrage, was Druck mache. In Arbeit seien Standards für das pädiatrische Setting und für Hospize.

Erstes Zwischenfazit – Den Mehrwert der Seelsorge lesbar machen

Es brauche eine hohe Sensibilität für den aktuellen Kontext, in welchem sich heutige Erkrankte bewegen, waren sich Gurtner und Benninger einig. Das Gesundheitswesen werde durch die Finanzierung gesteuert, Angebote für Patienten hingen davon ab. Interdisziplinarität und Multiprofessionalität sei ein Aushandlungsprozess. Die Seelsorge sei herausgefordert, ihren Beitrag im Rahmen der Gesundheitsversorgung für alle Beteiligten lesbar zu machen. Der Mehrwert, den die Seelsorge in diesen Kontexten einbringe, müsse von uns klarer kommuniziert werden.

Sich bei dieser Arbeit auch entlang der Patientenpfade zu bewegen, von stationär zu mobil und ambulant bis ins Hospiz, war der abschliessende Tipp an die zahlreichen Anwesenden.

Warum Seelsorge-Qualität

Für diejenigen, die sich jetzt immer noch fragten, warum auch die Spitalseelsorge sich um ihre Seelsorge-Qualität kümmern müsse, schloss Prof. Yves Brandt mit seinem Referat «Übersetzung seelsorglicher Prozesse in Qualitätsstandards und Kompetenzprofile» an.

Er rief zunächst die bereits qualitativ hochstehende Seelsorge in der Schweiz in Erinnerung. Man habe sich seit Jahrzehnten um hohe Ausbildungsstandards gekümmert. Wichtig sei auch die eigene Reflexion darüber, warum man den Seelsorge- oder Pfarrberuf ergreife. Auch die spirituelle Auseinandersetzung kenne eine lange Tradition.

Kein gemeinsames Verständnis über Vorstellungen von Leben und Sterben mehr

Wenn er heute über Qualität in der Seelsorge rede, dann geht es ihm um Objektivierung, die sprachlichen Anpassungen und die Verständigung im säkularen Gesundheitsumfeld. Es ist nicht mehr selbstredend, wenn über Tod, Ewiges Leben oder Vorstellungen wie Himmel, Auferstehung oder Reinkarnation gesprochen werde.

In diesem Umfeld sind die Seelsorgenden selbst dafür verantwortlich zu überprüfen, ob und wie ihre Arbeit am Menschen wirkt und ob sie gemäss der Situationen angemessen ist.

Prof. Brandt wies darauf hin, dass die Empfangenden von Seelsorge wenig oder gar keine Möglichkeiten hätten, ihre Erfahrungen, die sie mit der Spitalseelsorge gemacht haben, mitzuteilen. Sie sagen vielleicht gegenüber der Pflege, dass sie keine Seelsorge mehr wollen. Die Gründe erfährt meistens niemand. Auch aus diesem Grund besteht eine sehr hohe Selbstverpflichtung, die eigene Seelsorgequalität nachweisen zu können. Nur so könne die Spitalseelsorge gegenüber ihren Auftraggebenden – Staat, Kirchen oder den Spitälern selbst – Rechenschaft ablegen. Für diese Überprüfung schlägt er mehrere Wege vor.

Wege zur Überprüfung von Seelsorge-Qualität

Brandt führte aus: Als erstes können die Seelsorgenden nach einem Gespräch selbst fragen, ob es hilfreich war. Die Seelsorge könne sich zudem an Zufriedenheitsumfragen des Spitals aktiv beteiligen. Ebenso sei die Beteiligung an wissenschaftlicher Forschung, eigene Wirkungsmessung, wichtig. Die Seelsorgenden können sich zudem selbst Kriterien geben. Er verweist dafür auf die bereits bestehenden Grundlagenarbeiten von Nicoletta Sacagiu und Claude Flück. So ist es eine Grundkompetenz, sich als Seelsorge-Personen im Gesundheitswesen richtig verhalten zu können und Situationen angemessen zu erfassen. Dazu gehöre auch die Kenntnis über die Denkweise von Pflegenden und Ärzten. Er appellierte dafür, berufliche, spirituelle und persönliche Kompetenzen sowie verschieden Ausbildungsniveaus zu unterscheiden.

Diskussionen und Rückfragen aus dem Plenum

Die Impulse stiessen auf reges Interesse, was sich in der anschliessenden Plenumsdiskussion vor der Mittagspause zeigte. Es wurden Fragen zum Personalmangel, zur Finanzierung der Seelsorge, zu theologischen Abschlüssen und zur langjährigen Berufseinführung über das Pfarramt gestellt. Die Abgrenzung zu anderen Berufsgruppen wie der Psychotherapie kam ebenso zur Sprache wie mögliche Kriterien für die spirituelle Verankerung.

Nach einem Apéro und Mittagsbuffet, übernahm Susanne Altoè einen Rückblick auf den Vormittag. Sehr hilfreich war ihre Erinnerung an die grosse schweizerische Gestalt in der Professionalisierung der Pflege durch Liliane Juchli (1933 – 2020). Sie ist in den sechziger, siebziger Jahren vor einem ähnlichen Berg an Herausforderungen wie die Spital- und Klinikseelsorge heute gestanden. Schliesslich gelang es ihr, eine Systematik der Pflege zu erstellen, die zum Ausbildungsstandard ganzer Pflege-Generationen wurde. Ihr Lehrbuch erreichte Tausende und wurden achtmal neu aufgelegt.  Der frühere Beruf der «Krankenschwester» sei heute diversifiziert auf verschiedene Fachrichtungen, Spezialisierungen und Ausbildungsniveaus.  Auch der Seelsorge stünde eine solche fachliche Systematisierung bevor, bei welcher der Berufsverband mitwirken wolle.

World Cafés und die Lust am Austausch

An fünf grossen Tischen gab es Austauschrunden zur Profilschärfung des Seelsorgeberufes. Was gibt es bereits an Weiterbildungen, an denen Seelsorgende teilnehmen? Was ist die konkrete Kompetenz im Bereich Spiritualität und Interprofessionalität? Was genau tut Seelsorge eigentlich? Wie sieht die interreligiöse und a-religiöse Seelsorge aus? Wie definieren wir unsere Rollen und Grenzen?

Die Fülle der gesammelten Erkenntnisse aus den rotierenden Gruppen sprengte die ausgelegten Plakate. Ein Schlussplenum, an dem wesentliche Erkenntnisse von den Tischen nochmals mit Prof. Brandt reflektiert werden konnten, machten den inhaltlichen Abschluss. Eines der Schlussfazits war, dass wir in unserer Profession den Menschen eine Sprache geben können, sich über ihre inneren Lebensthemen, Vorstellungen auszudrücken. Gewisse Fragen könnten nur wir stellen, zum Beispiel, wie sie ihre Erkrankungen selbst deuten, oder welche religiösen oder spirituellen Ressourcen sie haben. Wir haben ein grosses Privileg, dass wir keinen monetären Umsatz machen müssten. Effizienz heisse in unserem Kontext, «zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein». Das wäre eine hohe Kunst.

Sabine Zgraggen

*Sabine Zgraggen (55) ist Passivmitglied des BSG und war als Gast an der Tagung anwesend. Sie leitet die kath. Spital- und Klinikseelsorge Zürich.

Fotos: Sabine Zgraggen

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